Am 30.4.2013 wurde ein handverlesenes Publikum Zeuge einer wunderbaren kleinen Leseperformance von Marina Lyubaskina in der Sergej Mawrizki Stiftung in Berlin. Marina las eine Episode aus ihrem 2009 erschienenen Buch “Gemorroj ili Marinočka, ty takaja nežnaja!” (dt. “Hämorrhoiden oder Marinočka, du bist so zärtlich”),
sowie aus ihrem neuen, noch unbetitelten literarischen Projekt, dessen Erzählerfigur Alice ebenso wie das literarische Vorbild in einer Welt lebt, in der sich Phantasie, Traum und Realität vermischen. Schon der erste Eindruck des Gehörten verrät die Verwandtschaft zum Vorgängertext und die Handschrift der Autorin – kurze, miteinander kaum verbundene Episoden in einer poetischen, extrem bildhaften Sprache, bunt assoziativ aneinandergereihte Sätze, der Blick der Malerin und Grafikerin. Aber nicht nur in der Sprache offenbart sich die Präferenz für das Visuelle, umgekehrt werden die gelesenen Textausschnitte nicht einfach ausgedruckt und abgelesen, sondern zu Kunstobjekten gestaltet, die ein Eigenleben führen: Papier wird zu bunten Leporellos verklebt, mit Rosenbordüren benäht, skurrile Körper und Grafiken umtanzen den Textblock wie in alten illuminierten Handschriften, Engel durchflattern das Publikum. Das Material drängt in den Vordergrund, verlangt förmlich nach Lesung, Vor-Lesung, Performativierung. Die Künstlerin selbst ist während der Performance mit Papierrosen und Engelsflügeln geschmückt, wie ihre Texte. Wer ähnelt sich wem an? Es ziehen sich Motive durch das Schaffen Lyubaskinas hindurch und machen vor Genregrenzen nicht halt: Papier ist Datenträger, Bastelmaterial, Kostüm, Metapher. Schon immer waren Performances Teil ihres Werkes, wobei diese aber nie eigenständigen, theatralen Charakter angenommen haben, sondern sich immer nur im Zusammenspiel der visuellen Elemente der beteiligten Kunstformen entfalten. Lyubaskinas Fotoserien (z.B. HIER oder HIER) hingegen gehen weit über die reine Performancedokumentation hinaus und eröffnen jeweils ganz eigene Räume des Bildlichen. Der Körper der Künstlerin, ihre Stimme und Kostümierung selbst ist immer wieder Teil des Geschehens, unterläuft die Differenzierung in Autor und Werk.
Es war ein stimmiger, kurzweiliger Abend voller Einladungen zum Genießen, Verweilen und Weitergehen, die Wegweiser in ganz unterschiedliche Richtungen, mit einer Künstlerin, die vor Ideen nur so überzusprudeln scheint und diese Begeisterung an das Publikum zu übertragen vermag und welches reich beschenkt nach Hause geht. Ich bin gespannt auf das neue Buch und wünsche dem letzten, dass es endlich einen deutschen Verleger finden möge!

Marina Lyubaskina-Orgazmus liest aus einem ihrer Texte, deren Exemplare sie auf ihren Leseperformances zu Papierobjekten gestaltet und verschenkt.

Ein weiteres give-away wird verteilt: diese “кролики” (“Hasenengel”) begleiten das Publikum durch die Walpurgisnacht nach Hause.
Tags: Gemorroj ili Marinočka, Marina Ljubaskina, Marina Lyubaskina, Marina Orgazmus, Nikolaj Makarov, Sergej Mawrizki, ty takaja nežnaja!, Марина Любаскина, Марина Оргазмус